Christoph Lichtin
In der Videoinstallation «Fallbeispiel» der 1972 geborenen Künstlerin Gabriela Löffel sind in zwei gegenüberliegenden Projektionen Menschen zu sehen, die von einer zunehmenden Verausgabung gekennzeichnet sind. Wir stehen als Betrachterinnen und Betrachter zwischen diesen jungen und älteren Frauen und Männern und nehmen Anteil an der anstrengenden Szene, welche sie uns vorführen. Der eigentliche Grund ihrer Anstrengung, das tatsächliche und sich immer wiederholende Umfallen und Aufstehen, ist allerdings ausgeblendet. Wir sehen lediglich den Moment kurz vor dem Umfallen und jenen kurz nach dem Aufstehen, wir hören das Aufklatschen von Körpern und die schwerer werdende Atmung, wobei die Tonspur einer anderen Logik folgt als das Bild. Indem die Künstlerin eine wesentliche Sequenz weglässt, jedoch mit dem Ton eine betörende Klangwirkung einführt, schafft sie Raum für eine Imagination. Wir füllen die filmischen Leerstellen mit einem eigenen, durch den Ton provozierten Bild. Gabriela Löffels Videoinstallation kann man sich nicht entziehen: Es sind eindringliche Bilder, die sie uns zeigt, und jene die sich in uns einstellen, steigern die Dramatik bis an die Grenze der Brutalität.
Die Arbeit besticht durch ihre Reduktion und ihre starke Metaphorik. Wir wissen natürlich, dass die Personen, die sich schweisstreibend vor uns aufstellen, Schauspielerinnen und Schauspieler sind. Doch die gekonnte künstlerische Umsetzung, die gezielte Auswahl der verschiedenen Typen, die anonymisierte Kleidung, der gesteigerte Ausdruck der Schauspielerinnen und Schauspieler, der rhythmisierte Klang, das subtile Ein- und Ausblenden lässt soviel offen, dass wir das Gesehene sowohl mit tatsächlichen Begebenheiten als auch mit einem allgemeinen Gesellschaftsbild in Verbindung bringen können, etwa dann, wenn wir erkennen, dass unsere Gesellschaft ebenso, wie im Video zu sehen ist, Personen bis zu einem bestimmten Punkt sich verausgaben lässt und sie dann durch eine andere ersetzt.
Obwohl Gabriela Löffels Arbeit eine aktuelle gesellschaftskritische Position einnehmen kann, ist sie auch einer Bildtradition verpflichtet, die sich von der Performancekunst der «Body Art» der späten 1960er Jahre bis in die Gegenwart ziehen lässt. Die Künstlerin scheut die archaischen Bilder, die ihre Vorgängerinnen und Vorgänger mit ihren Körperperformances geschaffen haben, nicht. Sie greift sie auf und setzt sie durch den subtilen Einsatz der Video- und der Klangkunst in eine neue Bildsprache um.
Die Jury verleiht Gabriel Löffel den Hauptpreis des diesjährigen Aeschlimann Corti Stipendiums für eine formal wie inhaltlich hervorragend umgesetzte Arbeit. Es ist ein Fallbeispiel, wie durch die Kunst des Weglassens etwas Grosses entstehen kann.
Christoph Lichtin
Kurator und Sammlungskonservator Kunstmuseum Luzern